Rede zum Umgang mit den Vergangenheiten der ehemaligen Oberbürgermeister

Schnell_MaiNachdem am Montag in der Stadtverordnetenversammlung die Entscheidung getroffen wurde, wie mit den Vergangenheiten der ehemaligen Oberbürgermeister Willi Seidel, Lauritz Lauritzen und Dr. Karl Branner umgegangen werden soll, möchten wir unsere Beweggründe für die Entscheidung der Mehrheit unserer Fraktion nachvollziehbar machen und veröffentlichen die Rede unseres Fraktionsvorsitzenden Dr. Günther Schnell aus der Sitzung am 20. Juli 2015:

Sehr geehrte Frau Stadtverordnetenvorsteherin,

sehr geehrte Damen und Herren,

seit einiger Zeit beschäftigen wir uns mit den Erkenntnissen der Studie zu den Vergangenheiten der ehemaligen Kasseler Oberbürgermeister. Die emotionale Debatte um die drei Lebensläufe zeigt, wie sehr wir noch heute damit beschäftigt sind, das Geschehene aufzuarbeiten. Die SPD in Kassel hat sich dieser Aufgabe gestellt. Wir tragen das Selbstverständnis einer Partei in uns, die schon früh das gefährliche Potential der nationalsozialistischen Bewegung erkannt, die sich konsequent für die Weimarer Republik stark gemacht und diese mit Otto Wels bis in die letzte Sekunde verteidigt hat.

Aber nicht nur dieser Tradition sind wir verpflichtet. Wir haben auch unseren drei ehemaligen Oberbürgermeistern und deren Angehörigen gegenüber eine Verpflichtung. Uns trifft die Aufgabe, anhand der Faktenlage eine gerechte Beurteilung der Rolle der 3 Oberbürgermeister vorzunehmen, soweit dies überhaupt anhand der vorliegenden Fakten und der Quellenlage möglich ist.

Bevor ich nun zur Begründung der einzelnen Punkte unseres vorliegenden Antrages für meine Fraktion komme, möchte ich folgende 3 allgemeingültige Schlüsse aus der Studie ziehen:

  • Für alle drei untersuchten Oberbürgermeister gilt, dass ihnen keine direkte Beteiligung an Kriegsverbrechen nachgewiesen werden konnte.

 

  • Anhand der Quellenlage lassen sich nicht alle Fragestellungen befriedigend rekonstruieren. Motivationen, persönliche Verhaltensweisen und Einstellungen in der Zeit von 1933 – 1945 waren und sind größtenteils nur den drei Oberbürgermeistern bekannt.

 

  • Die Studie kommt zu dem Schluss, dass es sich bei den drei Lebensläufen von Seidel, Lauritzen und Branner mit all ihren Kontinuitäten und Brüchen, mit ihrer Geschlossenheit und ihren Widersprüchen, um drei deutsche Normalbiografien des 20. Jahrhunderts handelt. Sie haben von 1933 bis 1945 mitgemacht, sie haben dann in der jungen Demokratie der Bundesrepublik ihren Platz gefunden, aber sie haben die Auseinandersetzung mit ihrer Rolle im 3. Reich gescheut, wie so viele.

 

 

 

Ausgehend von diesen Feststellungen haben wir Kasseler Sozialdemokraten den ernstgemeinten Ansatz, uns mit den Biografien unserer Oberbürgermeister auseinanderzusetzen. Wir drücken uns weder vor der Diskussion, noch vor der Entscheidung.

Wir alle können die vorliegenden Ergebnisse nur mit einem Abstand von 70, zum Glück, friedlichen und demokratischen, Jahren beurteilen. Wer von uns könnte definitiv sagen, wie er oder sie sich an gleicher Stelle entschieden hätte? Wer von uns kann nachvollziehen, unter welchem Druck jeder einzelne gestanden hat und wie leicht es gewesen sein mag, der Versuchung nachzugeben und sich dem menschenfeindlichen System des Nationalsozialismus anzuschließen?

Nachdem wir in der SPD aber auch in der Fraktion diese Umstände abgewogen haben, kommen wir mehrheitlich zu folgender Handlungsempfehlung, die ich Ihnen gern begründen möchte.

Im Falle des ersten Oberbürgermeisters nach dem Krieg, Willi Seidel, bitten wir den Magistrat, dem Ortsbeirat Unterneustadt vorzuschlagen, eine Rückbenennung des Willi-Seidel-Hauses vorzunehmen. Gerade in der Biografie und Person Willi Seidels gibt es viele offene Fragen, die uns zu diesem Vorschlag bewegen. Aus unserer Sicht spricht vieles dafür, dass er weder Mitglied der NSDAP war, noch dieser inhaltlich sehr nahe stand. Eine öffentliche Parteinahme für die Machthaber in der Zeit von 1933 bis 1945 lässt sich nicht feststellen.

Dennoch ist seine Rolle in der Verwaltung, in der er sein Tun anscheinend nicht hinterfragte, kritisch zu sehen. Willi Seidel war ein typischer preußischer Verwaltungsbeamter seiner Zeit. Er war Befehlsempfänger und hat das getan, was von ihm verlangt wurde, darunter auch Dinge, die aus heutiger Sicht nicht toleriert werden können.

Wir empfehlen heute gerade wegen der offenen Fragen und ungenauen Quellenlage die Rückbenennung des Willi-Seidel-Hauses. Und das nicht, weil wir Willi Seidel vorverurteilen wollen, sondern wir wollen vielmehr mit der Rückbenennung vermeiden, dass ein Jugendhaus, ein Ort sozialer und politischer Orientierung für junge Menschen, aufgrund seines Namensgebers zukünftig Gegenstand einer Diskussion wird, die weder dem Ort, noch dem Namensgeber gerecht werden kann.

Die Person Lauritz Lauritzen ist, wenn man meine eigenen Maßstäbe heranzieht, kein zentraler Bestandteil der heutigen Diskussion. Dennoch soll sie kurz beleuchtet werden, um den letzten Punkt unseres Antrags zu begründen. Nach Lauritzen wurden keine Orte in der Stadt benannt, noch erhielt er besondere Ehrungen, die wir heute zu diskutieren haben. Lauritzen war bis 1933 und nach 1945 Sozialdemokrat. Er entschied sich nicht für den Widerstand, sondern vollzog, wie viele andere auch, eine gewisse Anpassung an das Regime, wenn auch ohne dort besonders herausragende Positionen innegehabt zu haben. Diese typische Biographie, sein Verhalten, die Erkenntnisse aus der Studie, müssen in seinen Lebenslauf auf der städtischen Website integriert werden, damit die überarbeitete Fassung ein vollumfängliches Bild von ihm sicherstellt. Gleiches gilt natürlich für die Oberbürgermeister Willi Seidel und Dr. Karl Branner.

Mit Dr. Karl Branner diskutieren wir im Rahmen der Studien über einen Oberbürgermeister, der in Kassel besonders hohes Ansehen genossen hat und heute noch genießt. Deshalb hat man ihm zahlreiche Ehrungen zu teil werden lassen, die nicht nur von Sozialdemokraten initiiert wurden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade über seine Person und seine Rolle im Nationalsozialismus in der Stadtgesellschaft besonders heftig diskutiert wurde.

Die Empfangshalle der Stadt Kassel vor dem Zimmer des Oberbürgermeisters trägt aktuell seinen Namen. Hier sehen wir die Notwendigkeit, die Namensgebung abzuändern, da die Halle als Veranstaltungsraum für Empfänge und Ehrungen mit einem Namen versehen sein muss, der nicht zu Diskussionen führt. Jede Bürgerin und jeder Bürger unserer Stadt muss mit einem guten Gefühl an einer Veranstaltung in diesen Räumen teilnehmen können. Allerdings sehen wir davon ab, einen neuen Namensvorschlag für die Halle zu machen. Es wäre ein falsches, wenn nicht sogar fatales Signal, den Namen Branners aufgrund seiner Brüche zu tilgen und durch einen anderen Namen zu ersetzen. Der Schaden für beide Personen wäre immens groß.

Bei der Karl-Branner-Brücke schlagen wir Ihnen bewusst ein anderes Verfahren vor. Mehrheitlich sind wir hier für die Beibehaltung der Namensgebung. Wie Sie wissen, haben wir in unserer Fraktion die Abstimmung zu diesem Tagesordnungspunkt freigegeben, so dass im Verlaufe der Diskussion auch eine Gegenmeinung von Mitgliedern meiner Fraktion dargestellt werden wird.

Die Mehrheit der SPD-Fraktion ist der Meinung, dass eine komplette Tilgung aller drei Namensgebungen das ausblenden würde, was ich bereits zuvor gesagt habe, nämlich, dass es sich hier um Normalbiografien des 20. Jahrhunderts handelt. Millionenfach haben Menschen mehr oder weniger aktiv in diesem Land dazu beigetragen, dass der Nationalsozialismus funktionieren konnte. Millionenfach haben die Menschen aber auch festgestellt, welches Unheil daraus entstanden ist.

Alle drei Kasseler Oberbürgermeister haben sich in ihrer Aufbauleistung einer völlig zerstörten Stadt Verdienste erworben und alle drei haben aber auch ihre ganz persönliche Biografie in der Zeit des Nationalsozialismus. Das kann man nicht weg diskutieren und das kann man auch nicht mehr tilgen.

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren, heute sprechen wir allzu oft vom lebenslangen Lernen als wichtigen Bestandteil der gesellschaftlichen Entwicklung. Dies müssen wir auch den Generationen vor uns zugestehen. Viele Menschen haben sich persönlich von 1933 bis 1945 schuldig gemacht, manche mehr, manche weniger. Dazu gehören Taten, die wir heute weder verstehen, noch tolerieren können und andere, die aus heutiger Sicht vielleicht eher verständlich sein mögen. Wir müssen hier erkennen, dass nicht jede Schuld gleich schwer wiegt und dass jeder/jede Einzelne schon während und vor allem nach der Zeit des Nationalsozialismus dazu gelernt haben kann.

Gerade die Person von Karl Branner steht für eine Mehrzahl der Menschen in diesem Land, zu dieser Zeit. Er hat – aus welchen Gründen auch immer – mitgemacht. Er hat aber anscheinend während des Krieges erkannt, dass er einen Fehler gemacht hat und hat sich nach dem Krieg gewandelt. Er hat dazu gelernt. Er hat seine Verstrickungen zugegeben und hat gleichzeitig nicht darüber geredet. Wie so viele in dieser Zeit. Er hat, über die Vergangenheit schweigend, versucht, seinen Teil dazu beizutragen, dass sich die Demokratie verfestigen kann.

Gerade deswegen sieht ein großer Teil unserer Fraktion auch die Notwendigkeit, einen Ort in der Namensgebung so zu belassen, wie er ist. Wir müssen unsere Geschichte verstehen und akzeptieren können, nur dann können kommende Generationen begreifen, wie es zur Machtübernahme der Nationalsozialisten kam und wie sich unsere Demokratie von einer wackeligen zu einer standfesten Brücke entwickeln konnte.

Ich bitte Sie deshalb an dieser Stelle, unserem Antrag in der vorliegenden Form zuzustimmen, damit mit der Karl-Branner-Brücke ein Ort erhalten bleibt, an dem Geschichte, an dem eine Biografie unter Millionen, erfahrbar, erlebbar und erlernbar wird.

Abschließend ist es uns wichtig, dass es sich hierbei am heutigen Tage nicht um eine parteipolitische Auseinandersetzung handelt, sondern um eine historische Auseinandersetzung mit einem Stück Kasseler, mit einem Stück deutscher Geschichte. Darum hoffen wir auch darauf, dass sich möglichst viele Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung dieser Sichtweise anschließen und auf eine sachliche, historisch angemessene, Diskussion einlassen.